Wachholder zeigte auf ein einfaches Symbol auf dem Armband, dann auf das zweite Bild. "Treffer!" Silena atmete auf und unterdrückte ein Gähnen. "Haben Sie auch herausgefunden, was es bedeuten soll?" "Ja, habe ich. Wenn man das übersetzen würde, käme so etwas wie Aufspürer heraus. Im Griechischen heißt das Tierchen Ichneumon, die Franzosen nennen es rat despharaones: Pharaonenratte." Wachholder kratzte sich am blonden Schöpf. "Die Inder würden das Viech Mungo nennen. Es wird heilig genannt." Jetzt war Silena verwundert. "Aha?! Warum heilig?" Der Bibliothekar suchte in dem Abschnitt nach der Erklärung. "Der Ichneumon findet sich auf Fresken und Reliefs, sowohl in der Zeit der Ptolemäer als auch aus dem Alten Reich. Und verehrt wurde er wegen seines Könnens als Schlangenbekämpfer." Er blätterte. "Mh." Silena sah auf ihre eigenen Aufzeichnungen. "Passen da irgendwo Horus und Apophis hinein? Das habe ich nämlich bei meinen Hieroglyphen gefunden." Wachholder nickte und schaute rasch auf sein Blatt. "In dem Buch über Archäologie habe ich gelesen, dass im Grab von Ramses dem Sechsten ein schwarzes Ichneumon gefunden und mit dem Horus von Letopolis gleichgesetzt wurde - was immer es bedeuten mag. Und ich fand irgendwo noch ein Symbol auf dem Armband, das als Uto zu deuten ist." Er sah sie hilflos an. "Bringt Ihnen das etwas?" "Klingt, als sollten wir uns mit ägyptischer Sage befassen." Silena sah ihn bittend an. "Schon unterwegs." Er stand auf und verschwand in den Regalwelten der Bibliothek. Sie lehnte sich nach hinten und spürte das beginnende Sodbrennen. Rasch trank sie Tee, das Brennen ließ nach. "Und bringen Sie bitte noch etwas Brot mit?" Es war ihr ein wenig peinlich, dass sie so verfressen wirkte. Erklären konnte sie sich ihren Fund noch nicht, trotz der ersten Erkenntnisse. Grigorij besaß kein solches Armband. Jemand Unbekanntes hatte den Absturz beobachtet und nichts unternommen. Gehörte er womöglich zu denjenigen, die ihre Raketen abgefeuert hatten? Drachenfreunde würden kein Armband mit einem Schlangenfeind darauf anlegen. Sie trugen eher asiatische Zeichen mit sich, um ihre Verehrung für die Ungeheuer zu zeigen. Wer also? Wachholder kehrte mit Brot und weiteren Büchern zurück. "Hier, frisch aus dem Ofen", er warf den warmen Laib auf den Tisch, "und frisch aus der Sagen- und Mythenabteilung der Bücherspende." Laut knallten die Bücher auf die Platte, Staub wirbelte auf. Er wirkte kein bisschen müde, zog ein Messer aus dem Hausmantel und schnitt das Brot an. "Essen Sie, Gaspascha Zador-nova. Ich suche schon", sagte er zuvorkommend. "Danke." Silena blickte auf die Taschenuhr. Weit nach Mitternacht. Sie nahm sich eine dicke Scheibe, aß und sah dem Mann beim Arbeiten zu. Ihre Gedanken schweiften zu Leida. Sie hoffte, dass der Zeppelin ihrer Freundin keine vernichtenden Schäden eingesteckt hatte. Nicht noch ein Absturz. "Das war leicht", sagte er nach wenigen Minuten. "Ichneumon stand dem Gott Horus als Helfer zur Seite, als er die Apophis-schlange bekämpfte. Und Apophis war...", Wachholder wühlte sich durch die Seiten, "... die Verkörperung von Auflösung, Finsternis und Chaos. Er ist der Widersacher des Sonnengottes Re und wird als riesige Schlange dargestellt, meistens von übernatürlichem Ausmaß und mit etlichen Windungen." Apophis ist nichts anderes als ein Wurmdrache! Silena kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das Armband war der perfekte Talisman für einen Drachenheiligen - wenn sie nicht alle für die katholische Kirche arbeiten würden. Undenkbar, dass sich einer von ihnen mit ägyptischen Symbolen behängen würde. Eine andere Drachenjägereinheit vielleicht. Es blieb mysteriös. "Noch etwas?" "Der Legende nach wird die Sonnenbarke des Re auf der Reise durch die Unterwelt von der Schlangengottheit angegriffen. Und das jede Nacht. Apophis muss besiegt werden, damit die Sonne aufgehen kann." Wachholder hielt den Finger unter der Stelle. "Apophis hat die Fahrt der Barke mit den Windungen seines riesigen Schlangenkörpers behindert. Er vermag mit seinen Blicken zu hypnotisieren, aber das Ichneumon widersteht dem Zauber und hilft Re beim Kampf. Woanders steht, dass Re sich in einen Ichneumon verwandelt hat, um die Schlange zu besiegen." Silena schluckte. "Ausgezeichnet! Aber was hat es mit Uto auf sich? Sie erwähnten das." "Uto. Richtig." Wachholder blätterte wie ein Besessener. "Hier ... nein ... doch! Uto hat viele weitere Namen und ist eine altägyptische Schlangengottheit, die oft als aufgerichtete Kobra oder als Frauengestalt mit Krone abgebildet und außerdem mit der Feuer speienden Uräusschlange gleichgesetzt wird." Er klappte den Wälzer zu. "Der Hauptunterschied ist, dass Uto seit dem vierten Jahrtausend vor Christus verehrt wurde, aber der Glaube an Re erst um zweitausend vor Christus ins Spiel kommt." Er atmete tief ein, rieb sich den Bart. "Mehr habe ich nicht finden können." "Das ist sehr ordentlich, Herr Wachholder." Silena hatte viel gehört, doch ihr fehlte die Verbindung zu Grigorij. Wie der Bibliothekar zu ihrer Begrüßung im Grunde schon gesagt hatte: Russland und das uralte Ägypten verband nichts. Die ungeplanten Nachforschungen waren in Oranienbaum an ihre Grenzen gestoßen. Hier konnte sie nichts mehr ausrichten. Die Suche nach ihrem verschollenen Gemahl im gigantischen Zarenreich glich der Suche nach einem schwarzen Faden in einem stockdunklen Kohlenkeller - sofern er sich überhaupt in Russland aufhielt. Grigorijs Lage wurde gewiss mit jedem Tag schlimmer. Ich kenne einen Ort, an dem ich mehr erfahre. Sie stand auf und reichte dem Bibliothekar die Hand. "Vielen Dank. Ich stehe in Ihrer Schuld." Sie zog die Börse hervor. "Was bin ich Ihnen schuldig?" "Für das Brot geben Sie mir ein paar Kopeken, der Tee geht auf mich, und meine Zeit habe ich sehr gern mit Ihnen verbracht, Gaspascha Zadornova", erwiderte er und erhob sich, um eine kleine Verbeugung anzudeuten. "Die Ochrana wird nichts von mir erfahren." Sie lächelte und legte ihm weit mehr Münzen auf den Tisch, als er vorgeschlagen hatte, sammelte seine Blätter und die eigenen ein und wandte sich zum Ausgang. Der Skyguard stand auf. "Danke! Sie sind sehr großzügig." Wachholder ging an ihr vorbei und übernahm die Führung. Sein Hausmantel raschelte leise. "Reisen Sie heute noch ab?" "Mal sehen." Mehr wollte sie ihm nicht sagen. Sie kamen um die Ecke - und sahen den anderen von Silenas bewaffneten Begleitern neben der Tür liegen, die zur Treppe in Wachholders Wohnung führte. Silena und ihr Skyguard zückten sofort die Waffen, der Bibliothekar schaute sich ängstlich um. Da fiel die Haustür mit einem lauten Krachen zu. "Wer immer hier war, er scheint gegangen zu sein." Silena pirschte sich vorwärts zu dem Liegenden; der Skyguard gab ihr Deckung und folgte ihr. Der Mann am Boden atmete noch, am Hinterkopf sah sie eine kleine Platzwunde. Wir sind belauscht worden. Sie drehte sich zu Wachholder um. "Offenkundig hat uns die Ochrana zugehört. Wenigstens müssen Sie keine Angst haben, von den Herren besucht zu werden." Wachholder sah nicht so aus, als könne ihre Vermutung ihn trösten. Silena erhob sich und musste sich am Türrahmen abstützen. Ihrem Kreislauf schien es Spaß zu machen, ihr erst funkelnde Sternchen und danach ein Flimmern vor den Augen zu bescheren. "Ich hole Wasser für ihn." Wachholder eilte in seine Wohnung, der zweite Skyguard legte das Gewehr weg und kümmerte sich um den Niedergeschlagenen. Silena blickte aus dem von Reif gekränzten Fenster. Auf der Straße hetzte eine Gestalt in einem schwarzen Mantel davon. Sekunden danach röhrte ein Automobil durch die Nacht. Ich hoffe nicht, dass die Nachhilfestunde in ägyptischer Mythologie denen etwas an die Hand gegeben hat, was ihnen einen Vorteil vor mir verschafft. Sie lehnte die Stirn ans Glas, die Eisblumen schmolzen von der Wärme. Denk nach! Es geht um Grigorij! Sie musste nach München, auch wenn ihre Gefühle und ihre Ängste sie zwingen wollten, jeden Stein in Oranienbaum umzuwenden und nach ihrem Gemahl zu suchen. Sie verbot sich das sinnlose Tun. Es würde nichts bringen. Der beste Anhaltspunkt, so sagte sie sich, war das Armband. "Nach dem, was ich so hörte, sind Bänder mit Ichneumon-Symbolen neuerdings der Exportschlager", gab sie zurück. "Man findet sie sogar schon in Russland. In Oranienbaum." Er ließ sich nichts anmerken und trat näher. "Tapfere Katzenartige, diese Ichneumons. Ganz allein gegen eine übermächtige Feindin und doch schnell genug, sie zu vernichten." "Wie die Ritter und Nachfahren der Drachenheiligen. Auch sie zögern nicht und kämpfen." Silena sah zur Tür. Wo bleibt sie? Sie legte den Sicherungshebel der Luger um. "Denken Sie, dass meine Freundin sich verlaufen hat?" "Nein. Sie kommt gleich." Er setzte sich an den kleinen Tisch. "Ihre fast zwei Dutzend bewaffneten Freunde aber nicht. Sie werden vor dem Haus warten müssen." Nagib prostete ihr wieder zu. "Verzeihen Sie, dass wir Ihnen ein bisschen Theater vorgespielt haben, aber wir benötigten Zeit, um uns vorzubereiten. Das Haus ist eine Festung, müssen Sie wissen." Silena zog die Pistole und hielt sie locker am herabhängenden Arm. "Sie wissen, wer ich bin." "Nicht zu einhundert Prozent", gab der Ägypter zu und schaute an ihr vorbei zum Eingang, von wo Geräusche erklangen. Ein Schüssel drehte sich im Schloss, dann kamen Fayence und Nitokris herein. Leida ging hinkend in ihrer Mitte. "Deswegen hätten wir gern von Ihnen die Wahrheit erfahren." "Für wen halten Sie mich, Herr Nagib?" "Sie sind Fürstin Anastasia Zadornova. Eigentlich kannte man Sie früher als Großmeisterin Silena, und Sie gehörten dem Offi-cium Draconis an." Fayence näherte sich ihr und zog dabei den Arztkittel aus. "Eine derart berühmte Person kann nicht einfach unter einem anderen Namen in Europa weiterleben, Frau Zadornova. Das hätten Sie wissen müssen." Das habe ich schon einmal gehört. "Meinen Nachnamen bekam ich bei meiner Hochzeit mit Knjaz Grigorij Wadim Basilius Zador-nov", antwortete sie gelassen. Nicht einer der drei wirkte angespannt oder bedrohlich, und so blieb auch sie ruhig. Fast schien es, es träfen sich Bekannte. "Und genau diesen Mann suche ich." Sie griff langsam in die andere Tasche, zog das Armband heraus und hielt es in die Luft. "Das hier habe ich an der Absturzstelle gefunden." Sie warf es Nagib vor das Glas. "Meine Recherchen führten mich zu Ihnen." "Dann haben Sie vermutlich im Officium eingebrochen und sich unsere Akte durchgelesen?" Nagib lachte. "Kattlas Spione haben sich nicht viel Mühe gegeben. Diese Überheblichkeit wird die Einrichtung eines Tages untergehen lassen. Bedeutungslos ist sie beinahe schon." Er nahm den Schmuck und warf ihn zu Fayence. "Da hast du es wieder." Silena schwankte zwischen Zuversicht und Ärger. Wo ist Grigorij? Ihre Selbstbeherrschung löste sich mehr und mehr auf. Ich will Antworten! "Sie waren in Oranienbaum!" Fayence wischte das Armband mit dem Kittel ab, küsste jedes einzelne Segment und legte es mit Nitokris' Hilfe an. "Das war ich." Silena explodierte, eine Wutträne rann aus ihrem Auge. "Wohin haben Sie meinen Mann gebracht?", rief sie. "Warum haben Sie ihn abgeschossen?" Er schüttelte den Kopf. "Ich? Warum sollte ich?" "Ihre ... Organisation", sagte sie zornig und zielte mit der Luger auf Nagib. "Antworten Sie mir! Was ist das für eine Gesellschaft? Wo ist Grigorij? Ich zähle von drei rückwärts: eins ..." Nagib starrte auf den Lauf, Fayence fixierte Silena. "Zwei..." Silena zog den Hahn zurück. "Dr..." "Halt!" Nitokris hob den Kopf wie eine Königin, die eine Verlautbarung zum Volk sprechen wollte. Die Fassade der einfachen Sekretärin bröckelte zusammen, ihre Züge erhielten eine unvermutete Erhabenheit. "Wir kämpfen für die gleiche Sache: die Vernichtung der Schlange. Ihr nennt sie Satan oder Drache, wir nennen sie Apophis und meinen doch beide Chaos und Zerstörung. Nur dass unsere Kultur diese Bestien Tausende Jahre früher gezielt jagte als ihr in Europa." Sie zeigte mit einer tänzerisch-anmutigen Bewegung auf die Statuette. "Als Mitstreiter der Götter erwählte unser Bund das Ichneumon als Schutzwesen. Wie der Aufspürer die Giftschlangen stellt und tötet und die Menschen vor ihrem Biss beschützt, so halten wir es mit den Drachen." "Wir können das auch allein", sagte Leida abwertend. "Geht zurück an den Nil." Überschrieben war der Brief mit "Geschätzter Bruder", und ihm fehlte jede Art des Respekts. Der Verfasser wagte es, sich auf eine Stufe mit ihm zu stellen, ohne ein Altvorderer zu sein! War die Anrede allein schon eine Frechheit und Anmaßung sondergleichen, so war dies der Inhalt noch mehr. Geschätzter Bruder, Du wirst erfahren haben, dass ich der neue Herrscher des Ostens bin und die Nachfolge von Gorynytsch angetreten habe. Ich brenne darauf, dich bald kennenzulernen, damit ich deine Glückwünsche entgegennehmen darf und wir auf eine friedliche Nachbarschaft trinken können. Lass mich dir sagen: Wir Mächtigen müssen zusammenhalten, wollen wir die Stabilität in Europa bewahren! Vor allem in Russland ist ein hartes Durchgreifen notwendig, um die revolutionären Kräfte in Schach zu halten. Ich habe dem Zarewitsch bereits ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Von dir, geschätzter Bruder, erwarte ich, dass du Ruhe gibst und nicht versuchst, deinen Herrschaftsbereich auf meine Kosten auszudehnen. Mir ist allerdings zu Ohren gekommen, dass du das bereits getan hast. Ich nehme es dir nicht weiter übel, möchte jedoch in aller Form bekräftigen, dass ich Österreich-Ungarn für mich beanspruche und auch das preußische Reich mein Eigen nenne. Du magst hingegen glücklich mit dem restlichen deutschen Kaiserreich sein. Der kleine Verlust bedeutet kein Opfer für dich. Es soll dir gesagt sein, dass ich vor einer Auseinandersetzung mit dir nicht zurückschrecke, solltest du nicht geneigt sein, meine rechtmäßigen Forderungen anzuerkennen. Auch ich habe bereits Verbündete gefunden und um mich geschart. Aufbald! Tugarin Vouivre schnappte zu und wünschte sich, den Hals des Russen zwischen den Zähnen zu spüren. Aber es klickte nur laut, er biss in die Luft. weiß ich inzwischen von diesem Tugarin? Der Altvordere streifte durch den Keller, vorbei an den stoffverkleideten Säulen, den Wandteppichen und den altmodischen Petroleum- und 01-leuchten. Endlich in seiner Wissenskammer angekommen, suchte er in den ewig langen Regalen die Erkenntnisse seiner Spione heraus. Die Klauen bewegten sich mit sehr viel Feingefühl und Exaktheit, um die Aufzeichnungen nicht beschädigen. Viel ist es nicht. Tugarin wurde auf nicht einmal zweihundert Jahre geschätzt und war den ersten Spuren nach ein Gleitdrache mit vier Beinen. Er hatte zu Grosznys Lebzeiten Sibirien verwaltet, unter der kurzen Regentschaft von Gorynytsch war er nicht weiter aufgefallen. Vouivre wusste nicht einmal, ob er auf dessen Seite am Triglav gekämpft hatte. Wohl eher nicht, sonst wäre er tot. Er ist also schlau. Sein Lebensmittelpunkt befand sich anscheinend in der Nähe von Kiew, wo man den Zaren öfter gesehen hatte. Aber seine Spitzel hatten keinerlei Spuren von ihm ausmachen können. Was verwunderlich war. Gleitdrachen mussten sich gelegentlich am Boden bewegen und hinterließen Zeichen, denen man folgen konnte. Wo, zur Hölle, versteckt er sich? Vouivre ging einige Schritte tiefer in die Kammer bis zur Landkartensammlung und suchte die Detailkarte zu Kiew heraus. Er mochte den Geruch der alten Karten, die aus Papier oder Pergament bestanden. Relikte, Dinge, die so alt waren wie er, weswegen er sich mit ihnen verbunden fühlte. Die Karte über das Umland von Kiew war nicht ganz so alt. Er hatte mehrere verdächtige Orte eingekreist, die seine Spione vorsichtig untersuchten. Er hat ein Bündnis mit dem Zaren. Vouivre fragte sich, wie er es eingegangen war. Die Altvorderen hatten es stets so eingefädelt, dass niemand von ihrer Existenz wusste. Briefe und diplomatische Schreiben wanderten hin und her, größere Summen flössen, Erpressungen wurden ausgesprochen, kurzum: Die Herrscher der Menschen wurden auf vielfältige Weise manipuliert, damit sie das taten, was die Altvorderen wollten. Aber es war ein Tabu, sich einem Herrscher zu zeigen und damit einzugestehen, wie klug die Drachen in Wahrheit werden konnten, sollten sie ein höheres Alter erreichen. Je weniger ein König wusste, für wen er an den Strippen tanzte, desto besser. 312 Tugarin ist eine Gefährdung für mich. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn er mit dem Zaren zusammen in Sankt Petersburg Hofhält und sich gar wie ein zweiter Zar benimmt. Europa würde aufschreien. Vouivre dachte nach. Ich werde ihm seinen lächerlichen Anspruch bestätigen und so tun, als ginge ich aufsein Angebot ein. Vermutlich treffe ich mich sogar mit ihm, um keinen Argwohn zu wecken. Zur selben Zeit würde er den revolutionären Zellen in Russland neue Gelder sowie Waffen zukommen lassen, um die Aufständischen in ihrer Arbeit zu unterstützen. Romanows Reformen be-schwichtigten die lautesten Schreihälse im Volk, was Vouivre nun nicht mehr recht war. Die Pläne hatten sich geändert. Stürze ich den Zaren, entmachte ich meinen impertinenten russischen Aufschneider. Auch wenn es ihm nicht passte, den Kräften des Chaos seinen Beistand zu gewähren, konnte er nicht anders handeln. Es ging um seine Macht. Vouivre schob die Karte zurück und verließ die Wissenskammer, um sich zu seinem Schreibpult zu begeben, wo sich nicht nur ein Telefon, sondern auch eine Telegrafenstation befand, die früher dem Kommandanten der Festung gehört hatte. Seine Befehle flogen durch den Draht zu seinen Spionen: Sie sollten den Nachfolger suchen, der nach dem Tod des Zaren auf den Thron steigen würde und nicht den Namen Romanow trug. Und genau diesen nächsten engen Verwandten werde ich mir schnappen und zu meinem Mann machen. Vouivres Ärger wandelte sich zu Eigenlob und Selbstzufriedenheit. Russland wird mir gehören! Ich lasse Ddraig doch nicht vom Geweih aus dem Weg räumen, damit ich meine Macht mit diesem Dahergelaufenen teile. In bester Laune ging er in den Weinkeller, wo ein ganz besonderer Gewürztraminer lagerte. Ihm war nach einem guten Tropfen und dazu einer leckeren Trüffel. Da sah die Welt doch gleich ganz anders aus. Zur Vollendung seines Triumphes mussten ihm seine Leute den Weltenstein bringen. Noch war Snickelway nicht in York aufgetaucht. Vouivre nahm einen großen Pokal, zapfte sich Wein aus dem Fass, auf dem in geschwungener Schrift Pour leplaisir geschrieben stand, und trank schlürfend. Köstliches Gesöff und viel zu schade für Menschen. Er schlenderte zum Kistchen mit dem Trüffelvorrat und wählte sich eine davon, rieb behutsam über die unebene Oberfläche, schnupperte daran und freute sich auf den Geschmack, den er gleich am Gaumen kosten durfte. Ausgezeichnete Qualität! Er musste dringend in Erfahrung bringen, ob es in Russland etwas Vergleichbares zu diesen unterirdischen Schätzen gab. Kaviar überließ er gern den Menschen. -x 12. Januar 1927, München, Königreich Bayern, Deutsches Kaiserreich Silena sah zu Brieuc, der den schwarzen Elite Si8 zur Hofeinfahrt steuerte, anhielt und den beiden Georgswächtern seinen Ausweis zeigte. Sie salutierten und öffneten das Tor. Einer der Männer in den dunklen Mänteln sah sie lange an, als versuche er, sich an ihre Züge zu erinnern. Sie hatte ihn genau erkannt: Es war der Georgswächter, den sie in der Nacht bei ihrem Einbruch niedergeschlagen und bestohlen hatte. Heute fuhr sie hochoffiziell mit Fayence und Brieuc in das umgelagerte Archiv des Officiums, ohne ihre Drachenheiligenuniform angelegt zu haben. Der Ägypter trug einen hellen Anzug, sie ein Kleid mit einfachem Streifenmuster und einen eleganten Hut. Brieuc hatte sich sein protziges Auftreten in Ausgehuniform und Pelzkragenmantel dagegen nicht nehmen lassen. "Was haben Sie Prokop erzählt, dass er mich hineinlässt?" Silena erblickte den Gebäudekomplex zum ersten Mal bei Tageslicht. Er war im Stil der Gründerzeit erbaut. Reinen Jugendstil sah man selten, an den meisten Gebäuden hatte er sich mit Elementen der Gotik verbunden. Abgeplatzte Stellen in der Fassade und Löcher rund um ein Fenster erinnerten an ihre Verfolgung und dass die Männer nach ihr geschossen hatten. Es hätte auch anders ausgehen können. Der heilige Georg war mit mir.